Drei Studien auf Basis der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten – Durch Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes dürfte sich Wartezeit auf reguläre Gesundheitsversorgung für Geflüchtete auf zwei Jahre verdoppeln – Inanspruchnahme von Hilfen zur Integration bei Geflüchteten ungleich verteilt – Zentrale Mittelmeerroute weltweit der tödlichste Fluchtweg
Ende Februar wurde das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geändert: Geflüchtete erhalten nun bis zu drei Jahre nur eingeschränkte Gesundheitsleistungen. Darauf hatten sich Bund und Länder bereits im November vergangenen Jahres geeinigt. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) zeigt: Die Gesetzesänderung dürfte für Geflüchtete die tatsächliche Wartezeit auf eine reguläre Gesundheitsversorgung von gut einem Jahr auf knapp zwei Jahre fast verdoppeln. Hätte dieser Geltungszeitraum schon in der Vergangenheit gegriffen, so hätte jede*r zweite Geflüchtete (52 Prozent) sogar die ganze Geltungsdauer des AsylbLG, also drei Jahre, darauf warten müssen. Basis der Berechnungen ist die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten.
Hoffnungen, dass durch die Gesetzesänderungen Kosten eingespart werden, findet Studienautorin Louise Biddle kurzsichtig: „Wir wissen aus anderen Studien: Werden Gesundheitsprobleme erst adressiert, wenn dies unerlässlich ist oder es sich um einen Notfall handelt, ist es meist teurer als eine frühzeitige Behandlung. Die Gesundheitsversorgung von Geflüchteten einzuschränken, wird die Kosten für Länder und Kommunen also nicht senken.“
Kosten könnten eher mit der Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) für Geflüchtete gespart werden. Die eGK ist bisher nur in sechs Bundesländern eingeführt worden; in den anderen müssen Geflüchtete vor einem Arztbesuch einen Behandlungsschein beim Sozialamt beantragen. „Dies führt zu einem hohen Verwaltungsaufwand, verzögert die Behandlung und wird von Patient*innen und Ärzt*innen als belastend empfunden“, erklärt Louise Biddle. Hamburg kann beispielsweise durch die eGK in der Verwaltung jährlich rund 1,6 Millionen Euro einsparen. Die anderen Bundesländer sollten daher nachziehen, auch um den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Geflüchtete zu erleichtern.
Geflüchtete erhalten bei ihrer Integration nicht immer die benötigte Hilfe
Um medizinische Leistungen zu erhalten, müssen Geflüchtete nicht nur lange Wartezeiten in Kauf nehmen; sie brauchen dafür auch meist Unterstützung. Eine zweite Studie hat den Bedarf an Hilfe in fünf Bereichen untersucht: Zugang zur Gesundheitsversorgung, Asylfragen, Spracherwerb, Arbeitssuche und Zugang zu Bildung. Die Ergebnisse: 98 Prozent der Geflüchteten brauchen Hilfe in mindestens einem dieser Bereiche; 21 Prozent sogar in allen fünf. Den größten Bedarf an Unterstützung gibt es beim Deutschlernen (91 Prozent der Befragten) und beim Zugang zur medizinischen Versorgung (82 Prozent). Häufig erhalten Geflüchtete aber nicht die benötigte Hilfe: So geben 40 Prozent der Befragten an, dass sie Unterstützung bei der Arbeitssuche gebraucht, aber nicht erhalten haben; 34 Prozent betrifft dies bei Asylfragen. Geflüchteten mit einem Bildungsabschluss oder Arbeitserfahrung aus dem Herkunftsland gelingt es besonders häufig Unterstützung in Anspruch zu nehmen; Schutzsuchende ohne Abschluss oder Berufserfahrung erhalten seltener Hilfe. „Ob Geflüchtete die benötigte Hilfe erhalten, sollte nicht von einem hohen Bildungsabschluss oder bereits geleisteter Erwerbsarbeit abhängen. Das fördert ungleiche Startbedingungen und benachteiligt Personen ohne diese Ressourcen, beispielsweise Frauen oder junge Personen“, sagt Studienautorin Ellen Heidinger. Sie empfiehlt, bestehende Angebote niedrigschwellig zu kommunizieren und zu verbreiten. Auch Mentorenprogramme sollten ausgeweitet werden, da sie Integration fördern, wie eine frühere DIW-Studie zeigt.
Über Fluchterfahrungen wollen die meisten Geflüchteten nicht reden
Eine dritte Studie nimmt das Fluchtgeschehen von 2014 bis 2023 in den Blick: In den letzten zehn Jahren kamen die meisten Schutzsuchenden über die östliche Mittelmeerroute (35 Prozent) und Westbalkanroute (33 Prozent) in die EU. Die zentrale Mittelmeerroute nutzte etwa jede*r vierte Geflüchtete. Sie hat zuletzt jedoch an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig ist dies global gesehen auch die tödlichste Route: 63 Prozent aller dokumentierten Todesfälle von Schutzsuchenden auf dem Weg in die EU ereigneten sich auf dieser Strecke.
Neben der Auswertung der offiziellen Statistiken liefert die Studie auch Einblicke in die Fluchterfahrungen. Berechnungen auf Basis der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten zeigen: Auch von den Geflüchteten wird die zentrale Mittelmeerroute als besonders gefährlich eingeschätzt. Die Hälfte der Befragten (47 Prozent), die diesen Fluchtweg nutzten, machte negative Erfahrungen. Auf der östlichen Landroute machte dies nur jede*r siebte (14 Prozent). Fragt man die Geflüchteten konkret, was sie erlebt haben, werden am häufigsten Betrug (24 Prozent), Gefängnisaufenthalte und körperliche Übergriffe (jeweils 18 Prozent) genannt. Etwa die Hälfte möchte aber keine Auskunft über ihre Erfahrungen geben.
„Die Geflüchtete zeichnen ein in Teilen düsteres Bild von ihrer Flucht“, so Cornelia Kristen, Professorin für Soziologie an der Universität Bamberg und Senior Research Fellow am DIW Berlin. „Gleichzeitig sprechen viele Schutzsuchende, darunter insbesondere Frauen, gar nicht erst über ihre Erfahrungen. Wir erhalten dadurch ein nur unvollständiges Bild.“ Dies erschwere auch, Schutzsuchende nach ihrer Ankunft in geeigneter Weise zu unterstützen, so Kristen.
(c) DIW, 20.03.2024