Die vierzigtägigen Gebetsmahnwachen von Abtreibungsgegnern dürfen auf der
gegenüberliegenden Seite des Plateaus vor der Beratungsstelle von pro familia in der
Palmengartenstraße in Frankfurt am Main stattfinden. Das hat der Hessische
Verwaltungsgerichtshof in Kassel heute entschieden.
Der 2. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs hat mit Beschluss vom heutigen
Tage die Beschwerde der Stadt Frankfurt am Main gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 1. März 2022 (Az.: 5 L 512/22.F)
zurückgewiesen. Das Verwaltungsgericht hatte die Verlegung der Gebetsmahnwachen
an die Bockenheimer Landstraße während der Öffnungszeiten von pro familia durch eine
versammlungsrechtliche Verfügung der Stadt Frankfurt am Main als rechtswidrig
angesehen.
In seinem Beschluss stellt der Senat klar, dass die Mahnwachen der Abtreibungsgegner,
ihren Angaben zufolge täglich etwa 2 bis 10 Personen, ausschließlich auf der anderen
Seite des Plateaus stattfinden dürfen. Auf diesen Bereich hatten sich die Versammlungsteilnehmer freiwillig zurückgezogen. Durch den Abstand von zirka 30 bis
35 Metern zum Eingang des pro-familia-Gebäudes und die bestehenden
Sichtbehinderungen durch Büsche, Bäume und parkende Fahrzeuge werde die
Privatsphäre der schwangeren Frauen, welche die gesetzlich vorgeschriebene Beratung
vor einem Schwangerschaftsabbruch wahrnähmen, ausreichend geschützt. Eine sichere
Identifikation einer Person auf dem Weg zur Beratungsstelle sei bei diesen örtlichen
Bedingungen nicht möglich. Die gesprochenen Rosenkranzgebete und liturgischen
Gesänge seien eingebettet in eine Geräuschkulisse, die durch die mehrere Meter hohe
Fontäne in dem Teich vor dem Eingang zum Palmengarten auf der einen Seite und die
Verkehrsgeräusche von der Bockenheimer Landstraße auf der anderen Seite bestimmt
werde. Die Gebete und Gesänge seien deshalb vor dem pro-familia-Gebäude kaum
vernehmbar. Von der Situation vor Ort hatte sich die Berichterstatterin des Senats selbst
ein Bild gemacht.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat der Senat ausgeführt, das Grundrecht auf
Versammlungsfreiheit umfasse auch die freie Wahl des Versammlungsortes. Das vom
Veranstalter gewählte Plateau habe für das Versammlungsanliegen wegen der dort
gelegenen Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle von pro familia eine symbolhaltige
Bedeutung. Der Veranstalter sei nicht zu einer Rechtfertigung verpflichtet, warum er die
Versammlung nicht an einem anderen Ort durchführe, an dem er bei mehr
Publikumsverkehr sogar eine größere Öffentlichkeit erreichen könne.
Anders als das Verwaltungsgericht geht der Senat aber davon aus, dass das allgemeine
Persönlichkeitsrecht der Frauen, die eine Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle
aufsuchten, die örtliche Verlegung einer derartigen Versammlung grundsätzlich
rechtfertigen könne. Es gehe vorliegend nicht nur um einen Konfrontationsschutz vor
nicht erwünschten anderen Ansichten, der nicht beansprucht werden könne. Das
allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden Frauen könne durch psychischen
Druck etwa durch Plakate mit Baby- und Fötusbildern, Marienikonen, Transparente,
Gebete, Gesänge und Niederknien der Versammlungsteilnehmer beeinträchtigt werden.
Daneben sei auch das Interesse der ratsuchenden Frauen an einer Geheimhaltung der
bestehenden Frühschwangerschaft und des in Erwägung gezogenen
Schwangerschaftsabbruchs schutzwürdig.
Die Bekundung von Unbehagen, Unverständnis oder Empörung gegenüber der
Versammlung sowie einer rein subjektiv empfundenen Bedrohlichkeit durch die
schwangeren Frauen, andere Ratsuchende und das Personal der Geschäftsstelle von
pro familia dürfe aber nicht dazu führen, dass die unerwünschte und abgelehnte Meinung
durch räumliche Verdrängung der Versammlung bekämpft und die
Versammlungsteilnehmer in ihrem grundrechtlich gewährleisteten Recht auf freie
Entscheidung über den Versammlungsort beschränkt würden. Ein Eingriff in das
allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden schwangeren Frauen sei deshalb nur
dann gegeben, wenn eine Versammlung so nahe an dem Eingang einer
Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle stattfände, dass die Versammlungsteilnehmer
den schwangeren Frauen direkt ins Gesicht sehen könnten und die Frauen dem Anblick
der als vorwurfsvoll empfundenen Plakate mit Baby- und Fötusbildern sowie Parolen und
dem Anhören der Gebete und Gesänge aus nächster Nähe ausgesetzt wären. Dies sei
bei Durchführung der Gebetsmahnwachen auf der anderen Seite des Platzes nicht der
Fall.
Der Beschluss ist im verwaltungsgerichtlichen Instanzenzug nicht anfechtbar.
Quelle: Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Pressemitteilung vom 18. März 2022