Das bereits im Bundestag beschlossene Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (DokHVG) stößt auf eine Verweigerungshaltung bei den Ländern und soll nun in den Vermittlungsausschuss gehen. Es besteht die Gefahr, dass das wichtige Vorhaben auf den letzten Metern scheitert. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) kritisiert dies scharf. Übersehen werde, dass eine objektive Dokumentation auch im Interesse von Zeug:innen und der sozialen Gleichheit vor dem Gesetz wäre.
„Wir brauchen für den Strafprozess maximale Transparenz im Sinne aller Beteiligten, inklusive der Zeuginnen und Zeugen selbst“, stellt Rechtsanwalt Prof. Dr. Ali B. Norouzi, stellvertretender Vorsitzender des DAV-Ausschusses Strafrecht, klar. Deutschland sei eines von nur zwei EU-Ländern, bei denen noch keine Inhaltsdokumentation im strafgerichtlichen Hauptverfahren beim Landgericht stattfindet. „Das Strafrecht ist das schärfste Schwert des Rechtsstaates. Es ist schlichtweg unverständlich, dass hier ein Gesetz blockiert wird, das mögliche Fehlerquellen eliminiert und zu mehr Transparenz im Prozess führt.“
Zeugenaussage ist Bürgerpflicht – dem muss im Protokoll Rechnung getragen werden
Norouzi verweist ausdrücklich darauf, dass jeder von uns Zeuge oder Zeugin sein könne: „Ein Zeuge, der seiner Bürgerpflicht nachkommt und vor Gericht aussagt, darf erwarten, dass im Protokoll nicht nur ‚Der Zeuge machte Angaben zur Sache‘ steht.“ Der bisherigen Praxis mangele es an Nachvollziehbarkeit, sie treffe auch nicht die Erwartungshaltung der Bevölkerung.
Soziale Gerechtigkeit durch Dokumentation
„Der Status Quo ist auch sozial ungerecht“, erklärt Norouzi. Begüterte Prozessbeteiligte – beispielsweise in Wirtschaftsstrafprozessen – hätten die Möglichkeit, eigene Stenographen zu beschäftigen, die das Verfahren inhaltlich dokumentieren. Das sei der Mehrheit nicht möglich.
Europäische Standards werden ohne Dokumentation verfehlt
In anderen Ländern ist eine Inhaltsdokumentation im Hauptverfahren gang und gäbe. Der deutsche Weg stößt hier auf Unverständnis: „Wie man eine mehrtätige Hauptverhandlung qualitätsvoll führen kann, ohne ein zumindest teilweise wortwörtliches Inhaltsprotokoll zur Verfügung zu haben, ist für mich nicht nachvollziehbar. Fehlerquellen sind Legion“, so der österreichische Rechtsanwalt Prof. Dr. Richard Soyer, Seniorpartner des Wiener Anwaltsbüros Soyer Kier Stuefer und Professor für Strafrecht an der Universität Linz. Auch ein Rechtsmittelverfahren ohne ein solches intersubjektiv belastbares Protokoll auf der Grundlage zumindest einer Tonaufzeichnung verfehle unverzichtbare rechtsstaatliche Mindeststandards. „Das deutsche Reformvorhaben ist nachhaltig zu begrüßen und schon lange überfällig.“
Innerhalb der EU wurden bereits Länder ermahnt, deren Audiodokumentation nicht ausreichend ausgebaut war. Das kann in Zukunft für Deutschland noch gravierende Folgen nach sich ziehen: Europäische Haftbefehle könnten dann nicht mehr durchsetzbar werden, wenn die fehlende Dokumentation als Verstoß gegen die Fair-Trial-Prinzipien gewertet wird.
(c) DAV, 11.12.2023