Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass Art. 1 Nr. 3 bis 5 des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 14. November 2020 (BWahlGÄndG) mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Die abstrakte Normenkontrolle von 216 Mitgliedern des 19. Deutschen Bundestages der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE und FDP wendet sich gegen Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG. Durch die zur Überprüfung gestellten Bestimmungen in § 6 Abs. 5 und 6, § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG wurden das Verfahren der Sitzzuteilung bei der Bundestagswahl sowie die Regelung für die Berufung von Listennachfolgern geändert. Angestrebt wurde angesichts der nach der Bundestagswahl 2017 auf 709 Abgeordnete angewachsenen Größe des Deutschen Bundestages, einem zukünftigen Anwachsen des Parlaments entgegenzuwirken.
Der zulässige Normenkontrollantrag ist unbegründet. Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG ist sowohl mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot als auch mit den Grundsätzen der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien vereinbar.
Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen. Vizepräsidentin König und die Richter Müller und Maidowski haben ein Sondervotum abgegeben.
Sachverhalt:
Die hier zur Überprüfung gestellten Bestimmungen des BWahlGÄndG traten am 19. November 2020 in Kraft. Mit ihnen wird an einem Sitzzuteilungsverfahren mit einer ersten und einer zweiten Verteilung festgehalten. In der ersten – rein rechnerischen – Verteilung wird die Gesamtzahl der 598 Sitze des Bundestages den Ländern nach deren Bevölkerungsanteil und sodann in jedem Land die Zahl der Sitze auf Grundlage der zu berücksichtigenden Zweitstimmen den Landeslisten der Parteien zugeordnet. Nach einer Erhöhung der Sitzzahl des Deutschen Bundestages, die dem weitgehenden Ausgleich von in der ersten Verteilung rechnerisch angefallenen Überhangmandaten dient, werden die Sitze in der zweiten – tatsächlichen – Verteilung bundesweit nach der Zweitstimmenzahl auf die Parteien und sodann innerhalb der Parteien auf deren Landeslisten verteilt.
Das BWahlGÄndG sieht im Wesentlichen vor, dass mit dem Ausgleich von in der ersten Verteilung der Sitze rechnerisch anfallenden Überhangmandaten, die entstehen, wenn die Zahl der von einer Partei in einem Land erzielten Wahlkreismandate die Zahl der für die jeweilige Landesliste ermittelten Sitze übersteigt, erst nach dem dritten Überhangmandat begonnen wird. Zudem wird in begrenztem Umfang die Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate derselben Partei in anderen Ländern zugelassen. Außerdem bestimmt § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG einen Ausschluss der Listennachfolge für den Fall, dass eine Partei in einem Land über Überhangmandate verfügt.
Mit Beschluss vom 20. Juli 2021 (vgl. Pressemitteilung Nr. 73/2021) lehnte das Bundesverfassungsgericht den Antrag der Antragstellerinnen und Antragsteller ab, im Wege der vorläufigen Regelung anzuordnen, Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG bei der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag nicht anzuwenden. Am 26. September 2021 fand die Bundestagswahl statt. Die Sitzzuteilung erfolgte auf Grundlage des BWahlGÄndG.
Mit dem Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 8.Juni 2023 wurde insbesondere das Sitzzuteilungsverfahren für die Wahl des Deutschen Bundestages erneut geändert und § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG gestrichen.
Die Antragstellerinnen und Antragsteller sind der Auffassung, Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG verstoße gegen das Gebot der Normenklarheit sowie gegen die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Der zulässige Normenkontrollantrag ist unbegründet.
I. Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG genügt den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots.
1. Bei dem Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze handelt es sich um ein einheitliches Postulat; eine Trennung zwischen Bestimmtheits- und Klarheitsgebot dahingehend, dass eine Norm zwar noch hinreichend bestimmt sein kann, aber gegen das Gebot der Normenklarheit verstößt, kommt grundsätzlich nicht in Betracht. Die allgemeinen Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit von Gesetzen gelten auch für wahlrechtliche Normen.
2. § 6 Abs. 5 BWahlG lässt sich bei methodengerechter Auslegung entnehmen, wie die Sitzzahl des Deutschen Bundestages zu erhöhen ist und welche Folgen sich daraus für die Gesamtzahl der Sitze ergeben.
a) § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG regelt hinreichend bestimmt, wie und bis zu welchem Punkt die Sitzzahl des Deutschen Bundestages zu erhöhen ist. Soweit er vorschreibt, dass die Sitzzahl so lange erhöht wird, bis „jede Partei bei der zweiten Verteilung der Sitze nach Absatz 6 Satz 1 mindestens die Gesamtzahl der ihren Landeslisten nach den Sätzen 2 und 3 zugeordneten Sitze erhält“, wird deutlich, dass in einem iterativen Prozess die Sitzzahl des Deutschen Bundestages so lange zu erhöhen ist, bis bei der tatsächlichen Verteilung nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG jede Partei die Gesamtzahl der Sitze erhält, die ihren Landeslisten nach § 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG zugeordnet ist.
b) § 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG regeln hinreichend bestimmt, welche Sitzzahl jeder Landesliste beziehungsweise Partei bei der Erhöhung der Gesamtsitzzahl des Deutschen Bundestages nach § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG zu berücksichtigen ist. Gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG wird jeder Landesliste die Zahl der im Land von Wahlbewerbern der Partei in den Wahlkreisen errungenen Sitze – die Zahl ihrer Direktmandate – garantiert. Alternativ wird der auf ganze Sitze aufgerundete Mittelwert zwischen der Zahl der von der jeweiligen Partei erzielten Direktmandate und den für die Landesliste nach der ersten Verteilung ermittelten Sitze in Ansatz gebracht. Garantiert wird jeweils der höhere Wert der beiden Alternativen. Darüber hinaus bestimmt § 6 Abs. 5 Satz 3 BWahlG, dass jede Partei mindestens die bei der ersten Verteilung für ihre Landeslisten ermittelten Sitze erhält.
c) Nach § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bleiben bei der Sitzzahlerhöhung in den Wahlkreisen errungene Sitze, die nicht nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BWahlG von der Zahl der für die Landesliste in der ersten Verteilung ermittelten Sitze abgezogen werden können, bis zu einer Zahl von drei unberücksichtigt.
Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „bis zu einer Zahl von drei“ ergibt, dass § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG lediglich für bis zu drei Überhangmandate insgesamt gilt. Soweit § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bestimmt, dass diese Überhangmandate bei der Erhöhung „unberücksichtigt bleiben“, besagt dies, dass diese Mandate in die Erhöhung der Gesamtsitzzahl des Deutschen Bundestages nicht einbezogen, mithin nicht ausgeglichen werden.
d) Nach § 6 Abs. 5 Satz 5 BWahlG erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze des Deutschen Bundestages um die „Unterschiedszahl“. Ernstliche Zweifel, dass damit die Differenz zwischen der gesetzlichen Regelgröße des Deutschen Bundestages einerseits und der erhöhten Mandatszahl aufgrund der Sitzzahlerhöhung andererseits bezeichnet wird, bestehen nicht.
3. Auch die Regelung der zweiten (tatsächlichen) Sitzzuteilung in § 6 Abs. 6 BWahlG genügt bei methodengerechter Auslegung den Bestimmtheitsanforderungen.
a) Dies gilt zunächst für § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG. Die Formulierung „nach § 6 Abs. 5 BWahlG zu vergebenden Sitze[n]“ meint die erhöhte Sitzzahl ohne Überhangmandate.
b) Soweit § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG sodann bestimmt, dass in den Parteien die Sitze nach der Zahl der zu berücksichtigenden Zweitstimmen in dem in § 6 Abs. 2 Satz 2 bis 7 BWahlG beschriebenen Berechnungsverfahren auf die Landeslisten verteilt werden, ist die Zahl der Sitze inklusive möglicher unausgeglichener Überhangmandate zugrundezulegen. Demgemäß werden nach § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG insgesamt bis zu drei Sitze mehr an die Landeslisten verteilt als im Rahmen der Oberverteilung auf die Parteien nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG.
§ 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG ist daneben hinreichend bestimmt zu entnehmen, wie die Unterverteilung auf die Landeslisten zu erfolgen hat. Aus dem Verweis auf das Berechnungsverfahren nach § 6 Abs. 2 Satz 2 bis 7 BWahlG folgt, dass die Unterverteilung innerhalb der Parteien nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers stattfindet. Zugleich bestimmt § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG, dass jeder Landesliste mindestens die nach § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG für sie ermittelte Sitzzahl zugeteilt wird. In der Folge ist der Zuteilungsdivisor so zu bestimmen, dass die Landeslisten, bei denen nach der ersten Verteilung neben Direktmandaten (auch) Listenmandate anfallen, sämtliche Direktmandate und jedenfalls die Hälfte der nach Anrechnung dieser Direktmandate verbleibenden Listenmandate erhalten.
c) § 6 Abs. 6 Satz 3 BWahlG ordnet hinreichend bestimmt die für die personalisierte Verhältniswahl typusbestimmende Anrechnung der Direktmandate auf die Ergebnisse der Verhältniswahl an.
Sodann bestimmt § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG, dass die in den Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei auch dann verbleiben, wenn sie die nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG ermittelte Zahl übersteigen. Dies ist bei methodengerechter Auslegung dahingehend zu verstehen, dass die von einer Partei in den Wahlkreisen eines Landes errungenen Direktmandate ihr auch dann verbleiben, wenn sie die Zahl der Mandate übersteigen, die der entsprechenden Landesliste unter Zugrundelegung der erhöhten Gesamtsitzzahl (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG) ohne Berücksichtigung der Landesmindestsitzzahl (§ 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG) zustehen.
4. § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG genügt ebenfalls den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots. Demnach findet eine Listennachfolge im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 BWahlG nicht statt, solange die Partei in dem betreffenden Land Mandate gemäß § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG, also unausgeglichene Überhangmandate, innehat. Der Regelung ist hinreichend deutlich zu entnehmen, wann und in welchem Land eine solche Überhangsituation vorliegt.
5. Eine andere verfassungsrechtliche Bewertung folgt nicht daraus, dass wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger allein auf Grundlage des Gesetzestextes ohne Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen nicht in der Lage sein dürften, die Regelungen der § 6 Abs. 5 und 6, § 48 BWahlG im Einzelnen zu erfassen.
a) §§ 6, 48 BWahlG sind primär an die Wahlorgane als Rechtsanwender gerichtet, nicht hingegen unmittelbar an die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger.
b) Das Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze verlangt nur das Maß an Bestimmtheit und Klarheit, welches nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. Deshalb ist es hinnehmbar, die Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens so zu fassen, dass die damit betrauten Wahlorgane sie ordnungsgemäß anwenden können, wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger sie aber in der Regel nicht allein aufgrund des Normtextes, sondern erst unter Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen im Einzelnen erfassen können.
c) Der Gesetzgeber hat sich in verfassungskonformer Weise für eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl entschieden. In einem solchen Wahlsystem ist ein gewisses Maß an Komplexität des Sitzzuteilungsverfahrens nicht zu vermeiden. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber sich für einen Ausgleich von Überhangmandaten entschieden hat und deshalb die Sitzzahl des Deutschen Bundestages nicht als absolute Größe im Gesetz festgelegt ist. Eine weitere Erhöhung der Komplexität ergibt sich aus der Entscheidung des Gesetzgebers, hierbei auch föderale Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, das Element der Personenwahl bei der Bundestagswahl zu stärken sowie die Vergrößerung des Bundestages zu begrenzen, steigert die Komplexität erneut.
d) Unabhängig davon ist sichergestellt, dass sich die Wählerinnen und Wähler über die grundsätzlichen Wirkungen ihres Stimmverhaltens für die Sitzberechnung und die Zuteilung der Mandate verlässlich informieren können. Insofern genügen §§ 6, 48 BWahlG auch den Anforderungen des Demokratieprinzips, aus dem sich ergibt, dass die Wahl im demokratischen Verfassungsstaat in besonderer Weise die Aufgabe erfüllt, als Integrationsvorgang des Volkes zu wirken. Ihr Wortlaut enthält keine den wahren Regelungsgehalt verschleiernden Formulierungen. Mit Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG wurde überdies kein neues Wahlsystem etabliert. Wählerinnen und Wähler können daher auf Erfahrungen und die Praxis vorangehender Wahlen auch für das Verständnis der Neuregelung zurückgreifen. Außerdem wurde die verfahrensgegenständliche Änderung politisch kontrovers diskutiert. In diesem Kontext wurden ausführliche Modellrechnungen angestellt, die der Bundeswahlleiter öffentlich zugänglich gemacht hat. Mit ihnen ist die Sitzberechnung und Mandatszuteilung auch im Einzelnen nachvollziehbar.
II. Das durch das BWahlGÄndG modifizierte Sitzzuteilungsverfahren verstößt nicht gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG).
1. Indem § 6 Abs. 6 Satz 3 BWahlG die Zuteilung von bis zu drei Überhangmandaten ohne Ausgleich erlaubt, wird in die Wahlgleichheit sowie die Chancengleichheit der Parteien eingegriffen. Dies ist durch die verfassungslegitime Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl jedoch gerechtfertigt.
Die Zulassung von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten ist geeignet und erforderlich, das Ziel der Aufrechterhaltung und Stärkung des Elements der Personenwahl zu erreichen. Die Neuregelung bewegt sich innerhalb des dem Gesetzgeber eröffneten Gestaltungskorridors zur Schaffung eines personalisierten Verhältniswahlrechts. Ob es sich bei der Zulassung der Überhangmandate um eine bewusst herbeigeführte Konsequenz oder nur um eine ungewollte Nebenfolge der gesetzgeberischen Systementscheidung handelt, ist ohne Belang.
2. Soweit es § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 in Verbindung mit Abs. 5 Satz 2 BWahlG erlaubt, Direktmandate einer Partei mit Listenmandaten derselben Partei in einem anderen Land zu verrechnen, ist damit ebenfalls eine Beeinträchtigung der Wahlgleichheit verbunden, die durch das verfassungslegitime Anliegen einer Stärkung der Personenwahl gerechtfertigt ist.
Die Möglichkeit der länderübergreifenden Verrechnung von Direkt- und Listenmandaten dient dem Ziel, die Zuweisung sämtlicher Direktmandate zu gewährleisten, und stärkt damit das Element der Personenwahl. Sie trägt zur Erhaltung aller von einer Partei bundesweit gewonnenen Wahlkreismandate und einer annähernd gleichen Zahl von Direkt- und Listenmandaten bei. Mildere, die Wahlgleichheit weniger einschränkende Instrumente, die dieses Ziel ebenso gut erreichen, stehen nicht zur Verfügung.
3. Mit dem zur Überprüfung gestellten Sitzzuteilungsverfahren ist ein verfassungsrechtlich relevanter Effekt des negativen Stimmgewichts, der die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien sowie der Unmittelbarkeit der Wahl verletzt, nicht verbunden.
Ungeachtet der unterschiedlichen Auffassungen zu der Frage, inwieweit sich aufgrund des BWahlGÄndG Fälle des negativen Stimmgewichts ergeben können, ist davon auszugehen, dass dieser Effekt jedenfalls nicht in verfassungsrechtlich relevanter Weise auftreten kann. Zwar geht mit der Zulassung ausgleichsloser Überhangmandate einher, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen für eine Partei dazu führen kann, dass ein ausgleichsloses Überhangmandat wegfällt. Ein derartiger Stimmenzuwachs führte aber nicht dazu, dass die betroffene Partei erwartungswidrig Mandate verlöre. Vielmehr bliebe die Zahl der auf sie entfallenden Mandate gleich, und es würde lediglich ein ausgleichsloses Überhangmandat durch ein mit Zweitstimmen unterlegtes Direktmandat ersetzt. Ein widersinniger, dem Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl widersprechender Effekt zum Nachteil der von dem Zweitstimmenzuwachs betroffenen Partei wäre damit nicht verbunden. Gleiches gilt für den umgekehrten Fall, dass der Verlust von Zweitstimmen dazu führen kann, dass ein unausgeglichenes Überhangmandat anfällt.
Abweichende Meinung von Vizepräsidentin König, Richter Müller und Richter Maidowski:
Die Entscheidung der Senatsmehrheit erfasst Inhalt und Bedeutung des verfassungsrechtlichen Gebots der Normenklarheit im Wahlrecht nur unzureichend, misst diesem Gebot infolgedessen nicht das ihm zukommende Gewicht zu und mutet den Wahlberechtigten im Ergebnis eine Wahrnehmung ihres fundamentalen Rechts auf demokratische Selbstbestimmung „im Blindflug“ zu. Dies entspricht nicht der zentralen demokratischen Dignität des Wahlaktes und verwehrt den Wählerinnen und Wählern die ihnen in ihrer Rolle als Quelle demokratischer Legitimation zukommende Achtung. Die Entscheidung wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die sich aus dem Demokratie- in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergeben, nicht gerecht. Danach muss das Wahlrecht aus sich heraus so verständlich sein, dass die Wahlberechtigten in der Lage sind, eine freie und selbstbestimmte Wahlentscheidung in Kenntnis der möglichen Konsequenzen ihrer Stimmabgabe für die Zusammensetzung des Parlaments zu treffen. Davon ausgehend sind die zur Überprüfung gestellten Regelungen verfassungswidrig.
1. a) Das Demokratieprinzip und das daraus abgeleitete Recht auf demokratische Selbstbestimmung gebieten eine Ausgestaltung wahlrechtlicher Normen, die es den Wählerinnen und Wählern ermöglicht, aus eigener Anschauung zu erkennen, wie sich ihre Stimmabgabe auf das Wahlergebnis auswirken kann, und ihre Wahlentscheidung entsprechend auszurichten.
aa) Die Parlamentswahl als der für das demokratische Gemeinwesen entscheidende Akt verleiht dem Deutschen Bundestag und durch diesen vermittelt allen anderen staatlichen Organen ihre demokratische Legitimation. Diese Legitimationswirkung kann dem Wahlakt aber nur zukommen, wenn er selbstbestimmt und in Kenntnis der damit verbundenen Wirkungen erfolgt.
bb) Sowohl die Freiheit als auch die Gleichheit der Wahl sind nur gewährleistet, wenn die wesentlichen Regelungen für den durchschnittlichen Wahlberechtigten verständlich sind. Nicht vereinbar ist damit insbesondere ein Wahlverfahren, in dem für die Wählerinnen und Wähler vor dem Wahlakt nicht erkennbar ist, wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerberinnen und Wahlbewerber auswirken kann.
cc) Davon ausgehend gilt das Gebot der Normenklarheit im Wahlrecht für alle wesentlichen Schritte des Wahlvorgangs und insbesondere für diejenigen wahlrechtlichen Vorschriften, die für die Ausübung des Stimmrechts maßgeblich sind. Der aus dem Demokratieprinzip folgende Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf die gleichberechtigte Teilhabe an der politischen Willensbildung bei der Wahl des Deutschen Bundestages erschöpft sich nicht in dem Recht zur Stimmabgabe. Politische Partizipation setzt voraus, dass die Wirkungen dieser Stimmabgabe jedenfalls hinreichend konkret absehbar sind und bei der Wahlentscheidung berücksichtigt werden können. Dem müssen die wahlrechtlichen Vorschriften Rechnung tragen. Für die Wahlentscheidung relevante Regelungen, die sich nach dem Gesetzeswortlaut allein den Wahlorganen erschließen und für die Bürgerinnen und Bürger ohne Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen nicht verständlich sind, genügen den Anforderungen, die das Demokratieprinzip an die freie und selbstbestimmte Teilhabe am Wahlakt stellt, nicht.
b) Entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit ist dem Gebot der Normenklarheit im Wahlrecht nicht schon Genüge getan, wenn das Sitzzuteilungsverfahren für die Wahlorgane hinreichend verständlich ist.
aa) Dem Verfahren der Sitzzuteilung kommt für die Ausübung des Wahlrechts wesentliche Bedeutung zu. Die freie und selbstbestimmte Wahrnehmung des Wahlrechts setzt voraus, dass die Wahlberechtigten absehen können, wie ihre Wahlentscheidung auf die Zusammensetzung des Parlaments durchschlägt. Dies ist aber nur der Fall, wenn für die Wählerinnen und Wähler das Verfahren der Sitzzuteilung nachvollziehbar ist. Da die Wahl Sache des ganzen Volkes und gemeinschaftliche Angelegenheit aller Bürgerinnen und Bürger ist, kommt es auf die Verständlichkeit der zentralen wahlrechtlichen Normen einschließlich der Mandatszuteilung gerade auch für juristisch nicht vorgebildete Wahlberechtigte an.
bb) Die von der Senatsmehrheit demgegenüber vorgetragenen Argumente für die Verzichtbarkeit normenklarer Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens überzeugen nicht.
Die Senatsmehrheit verweist zunächst darauf, dass die Regelungen der Sitzzuteilung primär an die Wahlorgane und nicht unmittelbar an die Wählerinnen und Wähler gerichtet seien. Dass dies zu einer Einschränkung oder gar Suspendierung des Gebots der Normenklarheit führen soll, erschließt sich nicht. Entscheidend ist, ob dem Regelungsgehalt einer gesetzlichen Bestimmung Relevanz für die zu treffende Wahlentscheidung zukommt. Ist dies der Fall, muss die Norm so klar gefasst sein, dass sich die Wählerinnen und Wähler bei ihrer Wahlentscheidung darauf einstellen können. Das gilt auch und gerade für die Regelung der Sitzzuteilung.
Entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit reicht es auch nicht aus, wenn „für die Wählerinnen und Wähler in groben Zügen erkennbar und verständlich ist, wie die einzelne Wählerstimme in Mandate umgerechnet wird“. Ein derartiges Recht auf Partizipation „im Ungefähren“ trägt den sich aus dem Demokratieprinzip ergebenden Anforderungen an die Teilhabe des Einzelnen an der politischen Willensbildung und der Legitimation staatlicher Gewalt nicht hinreichend Rechnung.
Auch der Hinweis, es sei sichergestellt, dass die Wählerinnen und Wähler sich über die grundsätzlichen Wirkungen ihres Stimmverhaltens für die Sitzberechnung und Zuteilung der Mandate verlässlich informieren könnten, geht fehl. Die Senatsmehrheit verweist insbesondere auf die Informationsangebote und Modellrechnungen des Bundeswahlleiters. Normenklarheit schuldet aber der Gesetzgeber; er kann sich seiner Pflicht, hinreichend bestimmte und klare Wahlrechtsnormen zu erlassen, nicht unter Verweis auf die Interpretationsbemühungen Dritter entziehen.
d) Den Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit wahlrechtlicher Normen hat der Gesetzgeber bei der Wahrnehmung des ihm durch Art. 38 Abs. 3 GG übertragenen Regelungsauftrags Rechnung zu tragen. Zwar mag es ihm unbenommen sein, sich für ein komplexes Wahlsystem zu entscheiden. Das entbindet ihn aber nicht von der Verpflichtung, dieses Wahlsystem so normenklar zu regeln, dass die Wählerinnen und Wähler eine freie und selbstbestimmte Wahlentscheidung treffen können. Die Grenze des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums dürfte jedenfalls erreicht sein, wenn das ausgewählte Wahlsystem einen so hohen Komplexitätsgrad aufweist, dass eine normenklare, für die Wählerinnen und Wähler nachvollziehbare Regelung von vornherein ausscheidet und diese nicht mehr in der Lage sind, eine die Konsequenzen ihrer Stimmabgabe für die Mandatszuteilung berücksichtigende Wahlentscheidung zu treffen. In diesem Fall käme die einseitige Betonung des dem Gesetzgeber zugewiesenen Gestaltungsauftrags einer Überordnung von Art. 38 Abs. 3 GG über sonstige verfassungsrechtliche Vorgaben und Prinzipien gleich. Verfassungsdogmatische Gründe für eine Freistellung des Gesetzgebers von den sich aus Art. 20 Abs. 2 und 3 GG ergebenden Anforderungen an die Klarheit wahlrechtlicher Regelungen bei der Wahrnehmung des ihm durch Art. 38 Abs. 3 GG übertragenen Gestaltungsauftrags werden von der Senatsmehrheit nicht benannt.
2. Die zur Prüfung gestellten Normen werden den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Klarheit wahlrechtlicher Regelungen nicht gerecht. Wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger sind allein auf Grundlage des Gesetzestextes ohne Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen beziehungsweise juristischer Expertise im Wahlrecht nicht in der Lage, den Inhalt von § 6 Abs. 5 und 6 sowie § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG in der Fassung des Art. 1 Nr. 3 und 5 BWahlGÄndG zu erfassen. Entsprechend liegt ein Verstoß gegen das Gebot der Normenklarheit im Wahlrecht vor.
Urteil vom 29. November 2023 – 2 BvF 1/21
(c) Bundesverfassungsgericht, 29.11.2023