Die 16. Kammer des Verwaltungsgerichts Stuttgart hat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 06.11.2023 entschieden, dass das Land Baden-Württemberg die Hilfsfrist für das ersteintreffende Rettungsmittel vorläufig neu nach den Vorgaben des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 05.05.2023 – 6 S 2249/22 – zu berechnen hat (16 K 5276/23).
Mit seinem Urteil vom 05.05.2023 – 6 S 2249/22 – hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die bisherige Berechnung der Hilfsfrist gemäß § 6 des Rettungsdienstplans Baden-Württemberg in der Fassung vom 31.08.2022 für unwirksam erklärt, weil die dortigen Bestimmungen zur Hilfsfrist jedenfalls insoweit nicht mit den gesetzlichen Vorgaben in § 3 Abs. 2 Satz 5 und 6 Rettungsdienstgesetz Baden-Württemberg (RDG) vereinbar sind, als die gesetzliche Frist von möglichst nicht mehr als 10 Minuten vollständig außer Acht gelassen wird und der Notarzteinsatzdienst nicht an die Hilfsfrist gebunden sein soll. Mit Schreiben vom 11.07.2023 und 30.08.2023 wies das Innenministerium Baden-Württemberg die Regierungspräsidien des Landes sinngemäß an, vorläufig die Hilfsfrist weiterhin nach den vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg für unwirksam erklärten Vorschriften und dem Beschluss des Landesausschusses für den Rettungsdienst vom 23.11.2016 zu berechnen. Zur Begründung führte das Innenministerium aus, dass die Vorgaben des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg deutlich von den Realitäten in der Notfallrettung und damit von den Grundlagen der bisherigen Hilfsfristberechnung abweiche. So sei der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg wohl dahingehend zu verstehen, dass aufgrund des derzeit gültigen Rettungsdienstgesetzes jeder Einsatz der Notfallrettung als hilfsfristrelevant einzustufen und damit bei jedem Einsatz des Rettungswagens (RTW) und Notarzteinsatzwagens (NEF) die in der Straßenverkehrsordnung geforderte „höchste Eilbedürftigkeit“ gegeben ist. Das Innenministerium sehe hier grundsätzlichen Handlungsbedarf, der wegen der damit verbundenen technischen und regulatorischen Anpassungen nicht kurzfristig umsetzbar sei.
Die insgesamt 12 Antragsteller, darunter Notärzte und Kommunalpolitiker, haben am 13.09.2023 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beim Verwaltungsgericht Stuttgart zuletzt beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass die Hilfsfrist gemäß § 3 Abs. 2 RDG entsprechend dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 05.05.2023 – 6 S 2249/22 – zu berechnen ist. Grundlage für die Berechnung der Hilfsfrist sind nach Auffassung der Antragsteller alle Einsätze der Notfallrettung, wozu auch die Einsätze der Schwerlast-Rettungswagen (S-RTW) zählen, ohne Beschränkung auf das ersteintreffende Rettungsmittel und ohne Beschränkung auf Einsätze, die unter Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten im Sinne der Straßenverkehrsordnung durchgeführt werden.
Soweit der Eilantrag zudem auf die Verlegung eines Rettungshubschraubers gerichtet war, wurde das Verfahren abgetrennt und wird unter dem Aktenzeichen 16 K 6382/23 fortgeführt. Weitere zunächst gestellte Sachanträge haben die Antragsteller zurückgenommen.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz (Eilantrag) ist – soweit er zum Entscheidungszeitpunkt noch anhängig war – erfolgreich. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf eine Umsetzung des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 05.05.2023. Dieser Anspruch folgt unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG). Denn die strikte Umsetzung verbindlicher Gerichtsentscheidungen ist für alle Behörden in jeder Situation unverbrüchlicher Bestandteil rechtsstaatlicher Verwaltungskultur. Werden Gerichtsentscheidungen nicht umgesetzt, muss die Justiz zur Wahrung ihrer Autorität in der Lage sein, die effektive Durchsetzung ihrer Urteile gegenüber der öffentlichen Hand sicherzustellen. In seinem Urteil rügt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg insbesondere, dass die gesetzliche Hilfsfrist von möglichst 10 Minuten nach dem Rettungsdienstplan als maßgebliche Planungsgröße überhaupt keine Rolle spielt. Der Zielerreichungsgrad sei in der Vergangenheit regelmäßig nur bezogen auf die gesetzliche Höchstfrist von 15 Minuten erhoben worden. Es könnten daher „aktuell keine belastbaren Aussagen dazu getroffen werden […], inwieweit die 10-Minuten-Frist in der Notfallrettung in der Praxis eingehalten wird“. Daraus geht ohne Zweifel hervor, dass die bisherige statistische Erhebung der hilfsfristrelevanten Rettungseinsätze ungeeignet ist, um eine Planung zu gestalten, die die Einhaltung der 10-Minuten-Frist umsetzen kann. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung ebenfalls deutlich herausgearbeitet, welche Einsätze in der statistischen Auswertung zur Zielerreichung der Einhaltung der Hilfsfrist zu berücksichtigen sind, dass heißt statistisch zu erheben sind. Auf eine Berechnung der Hilfsfrist unter Berücksichtigung dieser Grundsätze haben die Antragsteller mithin einen Anspruch. Indem das Innenministerium mit seinen Schreiben vom 11.07.2023 und 30.08.2023 die Regierungspräsidien sinngemäß angewiesen hat, die Hilfsfrist einstweilen nicht neu zu berechnen, läuft dies der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes inhaltlich zuwider. Das Land Baden-Württemberg kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, ohnehin ein neues Gesetz beschließen zu wollen. Soweit die statistische Erhebung der Zielerreichung bei Zugrundelegung einer Hilfsfrist von 10 Minuten verlangt wird, kann diese ohne weiteres schon vor dem Erlass eines neuen Gesetzes erfolgen. Schließlich benötigt das Land Baden-Württemberg diese Zahlen ohnehin im Rahmen der Neufassung des Gesetzes.
(c) VG Stuttgart, 07.11.2023