Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) wandte sich am 11.09.2023 mit einem
schriftlichen Appell an die Justizministerinnen und Justizminister der Länder, um auf eine rechtsstaatlich höchst bedenkliche Entwicklung aufmerksam zu machen: Vermehrt ordnen Staatsanwaltschaften die Sichtung von Verteidigerkorrespondenz an. Sowohl die Anordnung selbst als auch die nachfolgend tatsächlich durchgeführte Sichtung sind nach Ansicht der BRAK rechtlich untragbar, da Verteidigerkorrespondenz der Sichtung der Staatsanwaltschaft grundsätzlich entzogen ist und einem Beschlagnahmeverbot aus § 97 Abs. 1 StPO unterliegt.
Die BRAK reagiert damit auf sich in jüngster Zeit häufende Berichte von Kolleginnen und Kollegen, nach denen verschiedene Staatsanwaltschaften digitale oder Papier-Korrespondenz zwischen Beschuldigten und Verteidigerinnen sowie Verteidigern mitnehmen, um diese gem. § 110 StPO zu sichten. Dies sogar dann, wenn die Korrespondenz klar und deutlich als sog. „Verteidigerkorrespondenz“ gekennzeichnet oder erkennbar ist. Den Berichten zufolge betrifft dieses Phänomen insbesondere Sachverhalte mit Bezug zu Cum-Ex-Fällen oder Sanktionsverstößen. Dieses Vorgehen stellt einen evidenten Verstoß gegen die Beschlagnahmefreiheit aus § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO und damit ein zentrales Beschuldigtenrecht dar. Die Beschlagnahmefreiheit gilt bekanntermaßen nicht nur bei der Beschlagnahme von Unterlagen im Gewahrsam des Verteidigers, sondern auch für solche im Gewahrsam des Beschuldigten. Dies hat auch das BVerfG in ständiger Rechtsprechung hinreichend klargestellt.
Die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Mandantinnen/Mandanten und Anwältinnen/Anwälten muss mit Blick auf die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht (§ 43a BRAO) unantastbar bleiben. Das Institut der Verschwiegenheitspflicht dient nicht etwa den Interessen der Anwaltschaft, sondern schützt die Mandantinnen und Mandanten. Durch die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht wird nicht nur das Individualinteresse des Mandanten, sondern auch das Interesse der Allgemeinheit an einer geordneten Rechtspflege geschützt. Eingriffe in den Vertrauensbereich „Anwalt – Mandant“ sind daher zwingend auszuschließen und zu unterbinden. In einem Rechtsstaat muss das Recht auf eine effektive Verteidigung und ein faires Verfahren geschützt werden.
Die BRAK setzt sich daher für ein umgehendes Ende dieser rechtswidrigen Praxis ein und bittet die Länder um ihre Unterstützung.
„Wir fordern die zuständigen Ministerien auf, umgehend die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um diese Praxis zu verhindern und die Rechte der Beschuldigten und ihrer Verteidiger bzw. von Mandantinnen und Mandanten und Anwältinnen und Anwälten zu wahren!“, so BRAK-Präsident Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels. „Bei der hier kritisierten staatsanwaltlichen Praxis handelt es sich nicht um eine gesetzgeberische Entscheidung, sondern um behördliches Handeln außerhalb des gesetzlichen Rahmens. Es besteht daher besondere Dringlichkeit, hier die Stimme zugunsten von Mandantinnen und Mandanten sowie Anwältinnen und Anwälten zu erheben. Wir müssen diese Praktiken beanstanden, ehe sie zur gebilligten Gewohnheit werden“.
(c) BRAK, 11.09.2023